Möhrenmord

Auszug aus 'Möhrenmord' (kommt im Sommer 2016)



Kapitel 1



Sonntagabend, 23. September 2012

Claus Pfeifer genoss die Aufmerksamkeit, die ihm geschenkt wurde. Auf dem Weg zum Podium schüttelte er zahlreiche Hände und posierte freundlich lächelnd mit jedem, der ihn darum bat. Ein Blitzlichtgewitter nach dem anderen erhellte den Kuppelsaal des Congress Centrums in Hannover. Sonia Assmer, die als Werbereferentin bei der Messe arbeitete, bedankte sich im Stillen bei ihrem Chef Peter Lest. Er hatte sie gebeten, an seiner Stelle an dieser Benefizveranstaltung teilzunehmen.

Sonia sah, wie Yvonne Ziegler, eine ehemalige Miss Deutschland und seit längerem die Freundin des gefeierten Fernsehkochs, immer wieder versuchte, sich bei ihrem Liebsten einzuhaken und sich neben ihm zu präsentieren. Doch der Mittvierziger schüttelte sie jedes Mal ab und drehte ihr den Rücken zu. 


»Oh, oh – noch mehr Ärger im Paradies«, unkte Akemi leise neben Sonia. Offenbar hatte die kleine Vietnamesin die Szene auch mitverfolgt.

Sonia drehte sich zu ihrer Freundin und sah sie neugierig an.

»Was meinst du mit ‚noch mehr‘? Gab es schon anderen Ärger?«

Akemi schaute sich schnell um, um sich zu vergewissern, dass niemand in direkter Hörweite war.

»Als ich von der Toilette kam, hab ich einen Streit zwischen ihm«, sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Fernsehkoch, »und seiner Noch-Ehefrau mitbekommen. Er will sich nämlich von ihr scheiden lassen, aber sie hat ihm die Papiere vorhin einfach vor die Füße geknallt. Donnerlittchen, war die sauer!«

Sonia hatte sich daran gewöhnt, dass Akemi, die in Dresden aufgewachsen war, zum Sächseln neigte, wenn sie aufgeregt oder müde war.

»Ich wusste gar nicht, dass der Pfeifer verheiratet ist.« Sonia strich sich eine Strähne ihres kinnlangen braunen Haares hinter das Ohr und zog die Stirn kraus.

»Oh doch.« Akemi nickte wissend. »Frau Pfeifer ist Stammkundin bei Marlis Möller, und wie du weißt, plaudern die Damen im Salon häufig sehr detailliert.«


Akemi hatte die Babypause nach der Geburt ihrer Tochter Rika vor zwei Monaten beendet, um wieder stundenweise in ihrem alten Beruf als Friseurin zu arbeiten. Durch Zufall arbeitete sie jetzt in dem vermutlich renommiertesten und teuersten Friseursalon Hannovers. Ein Salon, in dem sich vor allem die gut betuchten Damen der Hannoveraner Gesellschaft – und die, die gern dazu gehören wollten – die Haare schneiden ließen.


»Seine Ehefrau wohnt in Hannover?«

Akemi blickte ihre Freundin kopfschüttelnd an.

»Auf welchem Planeten lebst du eigentlich? Der Pfeifer kommt doch von hier!«

»Ich dachte, er wohnt in Hamburg. Schließlich hat er dort auch sein Restaurant«, verteidigte sich Sonia.

»Früher, als ihn noch keiner kannte, hat er hier in Hannover gewohnt. In dem Haus, das seiner Frau im Zooviertel gehört.«

Sonia pfiff leise, als vor ihrem geistigen Auge die herrschaftlichen Villen in dem teuersten Wohnviertel Hannovers auftauchten. Nachdem Gerhard Schröder vor mehr als zehn Jahren vom niedersächsischen Minister-präsidenten zum Bundeskanzler gewählt wurde, waren die Immobilienpreise dort noch höher geklettert.

»Seine Frau hat ein Haus im Zooviertel? Dann hat sie wohl Geld, was?«

»Schon mal den Namen von und zu Lieber gehört?« Akemi grinste spöttisch, als sie sah, wie Sonia die Augen weit aufriss.

»Du meinst, sie ist mit Ernst von und zu Lieber verwandt?«

Akemi nickte.

»Sie gehört zu seinem Clan. Cousine oder so.«


Sonia erinnerte sich an das erste Mal, als sie zusammen mit ihrem Nachbarn und guten Freund Alex auf eigene Faust ein paar Nachforschungen zu einem vermeintlichen Unfall angestellt hatten. Der millionenschwere Geschäftsmann Ernst von und zu Lieber hatte damals einen Selbstmord vorgetäuscht, um sich dann mit seinem Liebhaber nach Südamerika abzusetzen.


»Ist sie noch hier? Ich würde sie gern sehen.« Sonia sah sich neugierig im Saal um.

Akemi stellte sich Sonia gegenüber und raunte ihr leise zu: »Guck über meine Schulter. Sie steht direkt am Pflanzenkübel. Sie trägt ein schwarzes, wallendes Kleid und hat graues, kurzes Haar.«

Sonia blickte über ihre kleine Freundin hinweg und erstarrte.

»Die?«, fragte sie ungläubig. »Das ist ein Witz, oder? Die ist doch im Leben nicht mit dem Pfeifer verheiratet.«

Akemi stellte sich wieder neben Sonia und warf ihr ein scheinheiliges Lächeln zu.

»Wieso?«

»Na also, weil … Ich meine …«, stotterte Sonia.

»Sag schon, was du denkst. Trau dich!«

»Die ist eine graue Maus und … so farblos und … dick«, brach es aus Sonia heraus.

»Ja. Das ist sie«, bestätigte Akemi. »Darf ich vorstellen – Wilma Pfeifer, geborene Wilma von und zu Lieber.«

Sonia schaute kopfschüttelnd zwischen der fettleibigen, unattraktiven Frau und dem smarten, schlanken Fernsehkoch hin und her.

»Wieso hat er gerade sie geheiratet?«

»Du weißt doch, die inneren Werte …« Akemi hob die Augenbrauen vielsagend.

»Jetzt mal ehrlich. Sie scheint gar nicht zu seiner Persönlichkeit zu passen.«

Akemi zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Er war ja nicht immer so berühmt. Auch heutzutage gibt es noch genügend Zweckehen. Im Salon wird erzählt, dass er sie wegen des Geldes geheiratet hat.«

»Das glaub ich sofort«, meinte Sonia düster. »Denn je länger ich sie mir angucke, desto weniger fällt mir ein anderer Grund dafür ein. Und er will sich jetzt scheiden lassen, aber sie nicht?«

Akemi nickte.

»Den Anfang des Streits hab ich nicht mitgekriegt. Als ich kam, hat er leise was gesagt und sie ist plötzlich voll in die Luft gegangen. Sie hat rumgezetert, dass er so viele Flittchen haben könne wie er wolle, aber dass das für sie noch lange kein Grund für eine Scheidung wäre. ‚Du kommst nur tot aus dieser Ehe raus!‘ Das hat sie ihm ganz zum Schluss noch an den Kopf geknallt.«

»Was passierte dann?«

»Danach ist sie abgerauscht. Ich wollte nicht an ihm vorbeispazieren, als wenn nichts wäre, also hab ich gewartet. Nur dann hat er sich zu mir umgedreht.«

Sonia fasste sich an die Stirn. »Wie peinlich! Glaubst du, er hat geahnt, dass du alles mitbekommen hast?«

Akemi verzog das Gesicht.

»Weiß ich nicht. Er hat ein zerknirschtes Gesicht gemacht und dann so was wie ‚Frauen‘ gebrummelt. Anschließend ist er auch weggegangen.«


Sonia blickte zwischen Wilma und Claus Pfeifer hin und her. Während sich die übergewichtige Frau nicht von der Palme wegbewegt hatte und sich jetzt mit einem kleinen Tuch über die verschwitzte Stirn wischte, war der prominente Fernsehkoch mittlerweile am Podium angekommen. Er klopfte kurz an ein Cocktailglas, welches auf einem Stehpult stand, und das hell klingende Geräusch sorgte dafür, dass das allgemeine Stimmengewirr abbrach und es sofort still im Saal wurde. Alle Augen richteten sich auf Claus Pfeifer.


»Hallo zusammen, ich bin Claus Pfeifer – bei mir gibt es das Ei im Eff Eff!«, stellte er sich mit dem für ihn bekannten, markigen Spruch vor.

Das Publikum applaudierte begeistert.

»Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute Abend zu unserer Auftaktveranstaltung von ‚Bunt isst gesund‘ gekommen sind. Diese Benefizreihe wird in den nächsten Wochen durch Niedersachsen touren, und den krönenden Abschluss werden wir in vier Wochen auf der diesjährigen hannoverschen Verbrauchermesse, der Consuma, feiern. Dazu möchte ich Ihnen einen guten alten Freund von mir vorstellen: Ohne ihn wäre die Benefizveranstaltung in diesem Rahmen nicht möglich gewesen – Bernd Schneider, Leiter der Messegastronomie in Hannover. Bernd, komm her und sag ein paar Worte.«


Claus Pfeifer machte eine einladende Bewegung zu dem blondhaarigen Mann, der rechts neben ihm stand. Sonia kannte den Abteilungsleiter nur vom Sehen, da sie bisher noch nie mit ihm oder seinem Team zu tun gehabt hatte. Nachdem Bernd Schneider ein paar langweilige Worte zu der ‚Bunt isst gesund‘-Kampagne verloren hatte, gab er das Mikrofon an den Oberbürgermeister der Stadt Hannover weiter. Nach zwei weiteren Rednern war Claus Pfeifer wieder an der Reihe. Er hob das Cocktailglas und gab damit das Signal für diverse Hostessen, die sofort mit schwer beladenen Tabletts durch das Publikum gingen und jedem Besucher einen identischen Cocktail anboten.

»Lassen Sie uns alle gemeinsam anstoßen«, verkündete Pfeifer mit lauter Stimme und stellte sein Glas kurz wieder ab. Er setzte erneut zum Reden an, machte eine ausladende Bewegung mit den Armen und schlug dabei Bernd Schneider sein Getränk aus der Hand. Der Messemitarbeiter machte einen abrupten Schritt zurück, das Glas knallte auf den Boden und zersprang laut. Bernd Schneider guckte an sich herunter, aber der Großteil des Alkohols schien sich auf dem Teppich und nicht über seinen Anzug ergossen zu haben.


»Uups!« Claus Pfeifer machte ein zerknirschtes Gesicht. »Da war ich wohl ein wenig zu stürmisch.« Er griff nach seinem Cocktail und reichte ihn an den Abteilungsleiter. »Hier Bernd, nimm mein Glas.«

Eine aufmerksame Hostess eilte zum Fernsehkoch, um ihm einen neuen Cocktail anzubieten.

»So, wenn wir jetzt alle versorgt sind, lassen Sie uns mit diesem speziell für den Abend kreierten Beeren-Prosecco anstoßen. Ein kleiner Genuss aus Heidelbeeren, Brombeeren und Himbeeren, mit einem Schuss Himbeergeist und aufgefüllt mit Prosecco! Auf ‚Bunt isst gesund‘!«

»Bunt isst gesund«, schallte es vom Publikum zurück und man hörte einzelne Gläser klingen.

Sonia musste zugeben, dass die blauen und roten Beeren, die auf dem Glasboden lagen, prall und gut aussahen. Vorsichtig schnupperte sie am Glas, der Sektgeruch war unverkennbar.

»Lecker!« Akemi strich sich mit der Zunge über die Lippen.

Sonia hatte die Nase kraus gezogen.

»Wenn du willst, kannst du meinen auch noch trinken.«

»Willst du ihn nicht wenigstens probieren? Vielleicht schmeckt er dir.«

Sonia schüttelte mit dem Kopf.

»Du weißt doch, ich bin kein Fan von Alkohol, und gerade Prosecco brauche ich nur anzugucken und schon kriege ich Kopfschmerzen.«

Akemi trank mit einem beherzten Schluck ihr Glas leer und tauschte es gegen Sonias volles Glas ein. Sonia schmunzelte. Manchmal tat ihre Freundin, als wenn es morgen nichts mehr geben würde.

»Wie läuft es eigentlich zwischen Kai und dir?« Die kleine Vietnamesin angelte sich eine Heidelbeere aus dem Glas und sah Sonia auffordernd an.


Sonia presste die Lippen zusammen. Kai Rackwitt, ein Angestellter der Werbeagentur ‚Löwe in Platin‘ mit dem sie viel zusammenarbeitete, stand bei Akemi nicht hoch im Kurs. Normalerweise endeten die Gespräche zwischen den beiden Freundinnen immer damit, dass Akemi sich abfällig über ihn oder vielmehr sein Verhalten äußerte. Zugegebenermaßen hatte Sonia auch ein wenig gebraucht, um sich an den Sprüche klopfenden, gutaussehenden Graphiker zu gewöhnen, bevor sie festgestellt hatte, dass Kai ein ganz liebenswerter Kerl war. Sehr, sehr liebenswert, wie Sonia jetzt dachte. Ihr wurde warm ums Herz, als sie sich an seine grünen Augen erinnerte, die sie erst am letzten Wochenende wieder verschlungen hatten, als sie …


»Was ist da los?«, unterbrach Akemi ihre Gedanken und zeigte nach vorne.

Sonia sah, dass Bernd Schneider sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Claus Pfeifer stützte und sich den Bauch hielt. Der Fernsehkoch griff nach dem Mikrofon und bellte hinein: »Ein Arzt! Wir brauchen einen Arzt! Ist hier ein Arzt?«

»Was zum Kuckuck …«, begann Sonia, bevor sie von hinten zur Seite gedrängt wurde.

»Aus dem Weg, ich bin Ärztin«, rief eine große, schlanke Frau mit schwarzen, glatten Haaren bis zum Po, in einem hochgeschlitzten Abendkleid und lief so schnell an Sonia vorbei, wie es ihre High Heels erlaubten.

Das Publikum hatte sich weiter an das Podium gedrängt, so dass Sonia den Gastronomieleiter nicht mehr sehen konnte.

»Siehst du was?« Die kleine Vietnamesin balancierte neben Sonia auf den Zehenspitzen.

»Nein.« Sonia blickte sich um. Ihr Blick fiel auf den Pflanzenkübel, an dem Wilma Pfeifer vorher gestanden hatte. Die Frau des Fernsehkochs war jedoch jetzt verschwunden. Akemi folgte Sonias Blick.

»Gute Idee!« Sie ging auf den Kübel zu.

»Hey, ich steig da nicht rauf. Als Messeangestellte kann ich doch nicht auf einem Pflanzenkübel stehen, nur um besser spannen zu können«, empörte sich Sonia.

»Musste auch nicht. Hast ja mich.« Ehe Sonia sich versah, war Akemi auf den großen Pflanztopf geklettert, hielt sich an der Palme fest und schaute nach vorne.

»Dein Kollege liegt am Boden. Der ist total blass und zittert. Die Ärztin ist jetzt da und …«

In dem Moment dröhnte die wütende Stimme von Claus Pfeifer durch den Saal: »Was wollen Sie denn hier? Verschwinden Sie! Nimm einer dieses Weib weg! Überall, wo Frau Große-Wilde auftaucht, gibt es nur Ärger. Sie macht ihrem Namen alle Ehre!«

Sonia sah ihre Freundin fragend an und Akemi berichtete, was sie sehen konnte: »Der Pfeifer versucht die Ärztin wegzuhalten. Sie und andere Leute reden auf ihn ein. Jemand hält ihn fest und versucht ihn wegzuziehen, aber er – ah, jetzt hat er sich offenbar ein wenig beruhigt, er tritt einen Schritt zur Seite und sie beugt sich über den Mann.« 

»Ist das auch eine alte Freundin von ihm oder wieso kennt er die Ärztin?«, fragte Sonia.

Akemi hob die Handflächen resignierend nach oben und schüttelte mit dem Kopf.

»Mensch, du lebst aber auch echt in einer Parallelwelt, oder? Sie ist doch wirklich unverkennbar. Und dann hat er sogar eben auch noch ihren Namen gesagt – Große-Wilde! Klingelt da gar nichts bei dir?«

Sonia dachte angestrengt nach, konnte sich aber beim besten Willen keinen Reim auf den Namen machen.

Akemi seufzte.

»Hast du jemals seine TV-Sendung ‚Sternekoch‘ oder ‚Sternekoch junior‘ gesehen?«

Sonia machte eine verneinende Kopfbewegung.

»So was interessiert mich nicht.« Dann gluckste sie in sich hinein. »Weißt du, wie die Amerikaner diese Sendungen nennen? ‚Food Porn‘ – das hat mir unser amerikanischer Repräsentant Calvin erzählt. Lustig, oder?«

Die kleine Vietnamesin rollte mit den Augen.

»Ja, lustig. Wenn du allerdings mal ‚food porn‘ in den letzten Wochen geguckt hättest, dann wüsstest du, wer Frau Große-Wilde ist!«

»Komm, jetzt spann mich nicht länger auf die Folter«, bat Sonia ihre Freundin. »Wir wissen beide, dass ich ein, nennen wir es, Defizit bei öffentlichem Klatsch und Tratsch besitze. Aber anstatt da jetzt noch länger drauf rumzureiten, klär mich lieber über diese Ärztin auf.«

»Frau Eleonore Große-Wilde, genannt Ellie, ist Ärztin aus Braunschweig. In ihrer Freizeit kocht sie leidenschaftlich gern und hat daher in der letzten Staffel von ‚Sternekoch‘ mitgemacht. Claus Pfeifer konnte ihre Gerichte von Anfang an nicht leiden und hat sie immer stark kritisiert, aber die beiden anderen Köche fanden ihr Essen gut, so dass sie die ersten drei Runden überstanden hat. In der vierten Runde gab es dann ein totales Desaster, so dass sie mit einem verbrannten Soufflé den Wettbewerb verlassen musste. Später hat sie behauptet, dass man ihren Ofen manipuliert hätte, um sie loszuwerden.«

»Dann würde ich ja eher verstehen, dass sie ihn nicht leiden kann und nicht umgekehrt«, bemerkte Sonia.

»Das war auch noch nicht die ganze Geschichte.« Akemi holte Luft. »Kurze Zeit später gab es eine neue Kochshow: ‚Sternekoch junior‘ – die gleichen Köche in der Jury, dieses Mal aber mit Kindern im Alter von neun bis dreizehn Jahren als Teilnehmer.«

»Oh, oh“, unkte Sonia. „Lass mich raten – Frau Große-Wilde hat ein Kind und das hat daran teilgenommen?«

»Ja. Ihre Tochter Leonie, genannt Leo, war mit neun Jahren die jüngste Teilnehmerin. Und auch eine der Besten. Doch sie hat immer wieder Gerichte gekocht, in denen sie auf Anraten ihrer Mutter Ananas mit untergebracht hat.«

»Hä? Ananas?«

»Claus Pfeifer hat eine leichte Ananasallergie. Er kann sie essen, ohne das er Atemnot oder so bekommt, aber seine Zunge schwillt leicht an, und für die nächsten Stunden hat er ein Taubheitsgefühl im Mund.«

Sonia zog die Augenbrauen hoch.

»Echt? Das ist ja fies. Und das wusste Frau Große-Wilde?«

»Ja. Das weiß jeder, der beim ‚Sternekoch‘ mitmacht. Es wird gebeten, bei der Zubereitung der Speisen darauf Rücksicht zu nehmen. Bisher hat niemand es gewagt, während der Show ein Gericht mit Ananas zu kochen. Nur die kleine Leo hat jedes Mal etwas mit Ananas aufgetischt, was Claus Pfeifer dann kosten musste und den restlichen Tag nichts mehr probieren konnte.«

»Dann verstehe ich, dass er kein Fan von Frau Große-Wilde ist. Tut sich da vorne eigentlich schon was? Geht es Bernd Schneider wieder besser?«

Akemi schaute erneut nach vorne.

»Die Große-Wilde quatscht in ihr Handy. Jemand hat offenbar eine Decke gebracht, die legen sie ihm unter den Kopf. Und… iih. Ich glaube, er hat gerade gekotzt. Ja – die Leute sind zur Seite gesprungen. Dein Kollege hat sich übergeben.«

Sonia blickte auf die undurchdringlichen Rücken der anderen Zuschauer. Was war bloß los mit Bernd Schneider? War er krank?

»Scheiße, Sonia!« Akemi atmete plötzlich ganz schnell.  

Sonia sah besorgt zu ihrer Freundin hoch.

»Was ist? Was ist los?«

»Ellie, die Ärztin, also Frau Große-Wilde, sie macht …« Akemis Augen waren so weit aufgerissen, dass man rund um die Pupillen weiß sehen konnte. »Sie macht gerade Wiederbelegung. Mit auf den Brustkorb hauen und beatmen und so.«

Sonia lehnte sich an den Pflanzenkübel und schloss für einen Moment die Augen. Doch damit ließ sich weder das aufgeregte Stimmengewirr im Raum noch die Verwirrung in ihrem Kopf abstellen. Sie griff in die Tasche ihres Blazers, fummelte sich einen Bonbon aus einem PEZ-Spender heraus und steckte ihn sich in den Mund. Der Pfefferminzgeschmack auf ihrer Zunge fühlte sich kühl an.

Dann hörte sie Claus Pfeifer mit kräftiger Stimme verzweifelt rufen: »Das ist nicht wahr! Versuchen Sie es weiter! Verdammt noch mal! Machen Sie Ihren Job! Der Notarzt kommt gleich. Bernd! Bernd, hörst du mich? Wach auf. Wach auf!«

Sonia öffnete die Augen, drehte den Kopf nach oben und sah ihre Freundin fragend an. Akemi beugte sich zu ihr herunter und nestelte an dem Kragen ihrer Bluse.

»Sonia – ich glaube, er ist tot.«

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