Wer hat nicht schon mal darüber nachgedacht, seinen Chef umzubringen?
Die 18jährige Hausangestellte Carrie tat am 8. Februar 1915 genau dies: Sie öffnete die Haustür und schoß ihren Arbeitgeber, der gerade die Stufen zu dem herrschaftlichen Haus in Toronto hinaufkam, nieder. Der Aufschrei der kanadischen Bevölkerung war groß. Gerade waren die ersten kanadischen Truppen in Frankreich zur Unterstützung im ersten Weltkrieg gelandet und die Kanadier waren sowie so schon nervös und unruhig. Und dann wagte es eine junge Hausangestellte ihren Herrn kaltblütig zu erschießen - sofort interpretierte man dies als den Verfall der Gesellschaft.
Charlotte Gray nimmt in ihrem Non-Fiction-Buch 'The Massey Murder' diesen Fall genaustens unter die Lupe. Im Zuge des diesjährigen One Book One Community-Event (OBOC) war die kanadische Autorin im September für ein paar Tage zu Gast in der Stadt und sprach bei diversen Veranstaltungen über das Buch und ihr Dasein als 'creative non-fiction author'.
Am besten war die Diskussion zwischen ihr und dem Moderator Eddie Greenspan in der Kitchener Central Library. Greenspan, der wohl berühmteste kanadische Strafverteidiger, nahm die Autorin regelrecht in ein Kreuzverhör, wie man denn 'non-fiction erfinden könne'. Eine durchaus berechtigte Frage, denn entweder der Autor denkt sich etwas aus und es ist 'fiction' oder er bezieht sich auf Tatsachen und es ist 'non-fiction'. Wie kann es eine künstlerische Freiheit in einem Sachbuch geben?
Gray sagt dazu, dass sie für keins ihrer Bücher 'Geschichten erfindet'. Sie betreibt eine immense Recherche, um Details zu finden, die die eigentlich nüchternen Tatsachen bildhaft untermalen können. Dazu liest sie Tagebücher, Briefe, Gerichtsunterlagen, Zeitungsartikel, Familiengeschichten und wenn vorhanden schaut sie sich auch Fotos und Videos an. Daneben liest sie viele Bücher von anderen Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigen, um so ein möglichst umfassendes Bild zu einer bestimmten Person und Zeit zu bekommen. Sie stellt sich Sachen vor, aber sie erfindet sie nicht. Jede wörtliche Rede in ihren Büchern entstammt einer schriftlichen Quelle. Es gibt keine Charakter, Events oder eben Dialoge, die sie sich ausgedacht hat. Sie ist der Meinung, sie muß sich gar nichts ausdenken, denn es gäbe genügend Drama im richtigen Leben. Sie würde einfach nur zwei Dingen Aufmerksamkeit schenken: Dem großen Ganzen (the big picture - im Falle von 'The Massey Murder' dem kanadischen Land im ersten Weltkrieg) und den kleinen Details (wie z.B. dem schäbigen und abgenutzten Wollmantel der jungen Mörderin Carrie).
Nach ihrer Meinung liegt ihre kreative Leistung allein darin, dass sie die Begebenheiten aus der Sicht des Hauptdarstellers erzählt, der völlig unwissend durch das Buch bzw. das reale Ereignis stolpert. Denn während der Leser häufig das Ende einer ihrer Geschichten schon kennt, weiß der eigentliche Protagonist ja noch nicht, was mit ihm passieren wird.
Nach einem sehr lebhaften Gespräch zwischen den beiden war ich dann später wieder froh, an meinen Schreibtisch mit meiner Fiktion zurückkehren zu können. Wenn ich bei meinen Krimis demnächst an einen Punkt stoßen werde, wo es zunächst so scheint, als wenn ich feststecken würde, werde ich mir keine allzu großen Sorgen mehr machen. Denn ich habe alle Freiheiten, das Problem zu lösen. Im Gegensatz zu jemandem wie Charlotte Gray, die nur innerhalb einer sehr festgesteckten Rahmenhandlung agieren kann - und es dennoch schafft, dass sich ihre Bücher spannend lesen.
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